Auf einmal war es da: das winzige, für unser Auge unsichtbare Virus, das seither umso sichtbarer unser Leben bestimmt. Wir gehen auf Distanz zueinander, tragen Masken, meiden Menschenansammlungen und feiern keine Feste mehr. Einige trifft die Epidemie besonders hart, andere etwas weniger – aber sie setzt uns allen zu.
Seit wir dazu angehalten worden sind, Abstand zu halten, ist dieser zwischen manchen Freunden, Arbeitskolleginnen oder Familienmitgliedern weit grösser geworden als die vorgeschriebenen 1,5 Meter. Ihre Meinungen zum angemessenen Umgang mit dieser Pandemie liegen so weit auseinander, dass sie sich verwundert die Augen reiben und sich fragen: Habe ich mein Gegenüber wirklich so gut gekannt?
Doch wie umgehen mit solchen Dissonanzen? Bei Twitter, dem Social-Media-Kanal, auf dem ich regelmässig mitlese und -schreibe, hat sich in diesem Jahr eine Tendenz noch verstärkt, die schon seit Jahren zu beobachten ist: Die Stimmung ist deutlich aggressiver geworden und auf einen kurzen Schlagabtausch – oft nur mit Reizwörtern – erfolgt schnell einmal der rigorose «Kontaktabbruch». Diese Brüche zwischen Menschen, die sich bis anhin gut verstanden und in vielen anderen Punkten durchaus übereinstimmen, beschäftigt mich mindestens so sehr wie das Virus selbst. Die zunehmende Unversöhnlichkeit und Diskursverweigerung machen mich betroffen. Wohin wird das noch führen?
Warum fühlen wir uns von entgegengesetzten Ansichten essenziell angegriffen? Wie lässt sich mit diesen Spannungen umgehen? Denn spätestens, wenn sie im eigenen Umfeld angekommen sind, lassen sie sich eben nicht mehr so einfach beiseite schieben wie eine Zeitung, die man niemals lesen würde. So stellten sich auch mir in diesem Jahr ganz neue Fragen: Soll ich mich an meinem Geburtstag wirklich mit der Freundin aus Kindertagen treffen, obwohl wir auf einmal «zwei verschiedenen Lagern» angehören? Werden wir das Thema, das uns seit Monaten auf so vielen Ebenen beschäftigt, einfach ausklammern oder stellen wir uns trotz Geburtstag den Diskussionen?
Mag ich mit der Bekannten aus dem Quartier weiterhin Spaziergänge unternehmen, wenn sie mir zwischendurch von abstrusen Theorien erzählt?
Hat eine noch recht neue Freundschaft überhaupt eine Chance, wenn wir bei diesem Thema jetzt schon aneinandergeraten?
Die Möglichkeiten, sich zu informieren, haben seit der Erfindung des Internets unendlich zugenommen. Das macht es – gerade auch in diesem schwierigen Jahr – nicht einfacher. Wir Laien wurden geradezu überhäuft mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, und was an einem Tag noch richtig war, galt schon am nächsten wieder als falsch. Das versteht, wer weiss, dass wissenschaftliche Ergebnisse immer vorläufig sind. Dennoch kann es ermüdend und irritierend sein – besonders in unsicheren Zeiten. Meinem Wissensdrang hat dies zum Glück nicht geschadet und das Aushalten dieser (scheinbaren) Widersprüche hat im besten Fall meine Ambiguitätstoleranz erhöht.
Ich habe übrigens beschlossen, mich den Diskussionen im Freundeskreis zu stellen. Das ist oft unbequem und anstrengend. Doch es bringt auch Vorteile: Ich habe gelernt, mir eine andere Sichtweise anzuhören, ohne sie teilen zu müssen. Und ich habe festgestellt, dass man kann sich noch verstehen kann, auch wenn man in diesen Fragen sehr weit auseinanderliegt.
2020 hat mir gezeigt, dass nichts sicher ist. Sicher ist hingegen: Es hat meine Resilienz gestärkt und meine Ambiguitätstoleranz erhöht. Das nehme ich gerne mit ins nächste Jahr, ich werde es brauchen können!
Ja, der Umgang mit all dem war in vieler Hinsicht lehrreich. Auch für mich. Ich habe den Rückzug als introvertieres Gemüt genossen – so viel Ruhe, so wenig Termine. Eine Wohltat. Aber ja, mir wurde auch bewusst, dass es nicht nur einfach ist, wenn die Ruhe und die Möglichkeiten nicht selbstgesucht sind – wobei das die Unruhen auch nicht waren… ich kam mit erzwungener Ruhe besser klar als mit Pflichtterminen.
Ich wusste schon vorher, dass Wissenschaft kaum je absolut gültig und der Weisheit letzter Schluss ist. Schon gar nicht sind die Ergebnisse immer logisch (oder zumindest nicht meiner Logik zugänglich). Und doch merkte ich bei mir, dass ich mich lieber dran hielt als auf Krawall zu gehen… weil: Ich wusste noch weniger. Und ich war schlicht froh, dass ich nicht entscheiden musste. ICH hätte es nicht gekonnt. Ich hatte ja KEINE Ahnung – nur viele Ahnungen und logische Gedanken… die aber wohl nicht schlüssig waren.
Das Virus ist in vieler Hinsicht schlimm, doof, nervtötend, eine Plage, unnötig vor allem – aber: Wir haben es… und es hat mich einiges gelehrt. Und ja, ich wäre nun auch gerne ausgelernt… aber die Lehren werden wohl weiter gehen – es ist ja schliesslich das Leben, das spielt.
Resilienz ist in all der Zeit eine wundervolle Sache. Ich bin sehr dankbar für meine Rituale, Rückzugsmomente, Kraftmomente. Daraus versuche ich auch nächstes Jahr wieder zu schöpfen. Und aus allem, was ich dieses Jahr gelernt habe.
Liebe Grüsse zu dir