Die andere Zeit

In der Zeitung wurde wieder daran erinnert, dass in der folgenden Nacht die Uhren um eine Stunde zurückgestellt werden mussten. Inge graute schon davor, dass es abends nun noch früher dunkel werden würde. Eigentlich wird es ja gar nicht früher dunkel, murmelte sie vor sich hin, jedenfalls nicht so plötzlich. Sie dachte noch eine Weile über diesen Umstand nach und kam nach einigem Hin und Her zum Schluss, dass sie diesmal einfach nicht mitmachen würde. Jawohl! Sie würde ihre Uhr nicht zurückdrehen und einfach weitermachen wie bisher.

Ihre Gewohnheiten behielt sie bei. Wenn sie, wie immer, um 12 Uhr ihr Mittagessen einnahm, sah sie, dass die Familie im Haus gegenüber noch nicht einmal am Tisch sass. Beim Einkaufen traf sie jetzt auf Menschen, die ihr nie zuvor begegnet waren, und diejenigen, die sie sonst meistens angetroffen hatte, sah sie nicht mehr. Einmal pro Woche telefonierte sie mit ihrem Sohn. Er rief immer sonntags pünktlich um 13 Uhr an. Nun rief er um 14 Uhr an und Inge gewöhnte sich an, in dieser Stunde zu lesen.

Hatte sie einmal einen Termin und vergass, dass alle anderen Menschen um sie herum nach einer anderen Uhrzeit lebten, hatte das kaum Folgen. Da es bei ihr ja eine Stunde später war, war sie einfach zu früh, was ja viel besser ist, als zu spät zu sein.
Einmal fragte sie auf dem Friedhof ein Herr nach der Uhrzeit. Inge fiel erst viel später ein, dass sie ihm ja ihre Zeit genannt hatte, und das tat ihr im Nachhinein leid.

Als es Frühling wurde, musste sich Inge mit der Tatsache beschäftigen, dass nun bald alle um sie herum ihre Uhren wieder umstellen würden und diese also fortan wieder dieselbe Zeit wie ihre Uhr anzeigten. Der Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht. Schliesslich hatte sich alles so gut eingependelt. Zudem hatte sie beim Einkaufen und auch auf ihren Spaziergängen einige neue Bekannte gefunden, mit denen sie ab und zu ein Schwätzchen hielt. Auch dass ihr Sohn erst um 14 Uhr anrief, passte ihr ganz gut.

Inge setzte sich also an den Küchentisch und nahm Papier und Stift, um alles genau aufzuschreiben. Es war gar nicht so einfach. Wenn sie also ihre Uhr weiterhin nicht umstellen würde, hätten die anderen nun ja wieder dieselbe Uhrzeit wie sie. Sie würde also, wenn sie ihre Gewohnheiten beibehielt, nun um 10 Uhr beim Einkaufen ihre neuen Bekannten nicht mehr antreffen. Denn offenbar gingen diese ja schon um 9 Uhr einkaufen. Es gab also nur eine Möglichkeit: Sie musste ihre Uhr nun ebenfalls eine Stunde vorstellen, was sie – leicht widerwillig – auch tat.

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Wie ich in diesem Jahr meine Resilienz gestärkt und meine Ambiguitätstoleranz erhöht habe.

Auf einmal war es da: das winzige, für unser Auge unsichtbare Virus, das seither umso sichtbarer unser Leben bestimmt. Wir gehen auf Distanz zueinander, tragen Masken, meiden Menschenansammlungen und feiern keine Feste mehr. Einige trifft die Epidemie besonders hart, andere etwas weniger – aber sie setzt uns allen zu.
Seit wir dazu angehalten worden sind, Abstand zu halten, ist dieser zwischen manchen Freunden, Arbeitskolleginnen oder Familienmitgliedern weit grösser geworden als die vorgeschriebenen 1,5 Meter. Ihre Meinungen zum angemessenen Umgang mit dieser Pandemie liegen so weit auseinander, dass sie sich verwundert die Augen reiben und sich fragen: Habe ich mein Gegenüber wirklich so gut gekannt?
Doch wie umgehen mit solchen Dissonanzen? Bei Twitter, dem Social-Media-Kanal, auf dem ich regelmässig mitlese und -schreibe, hat sich in diesem Jahr eine Tendenz noch verstärkt, die schon seit Jahren zu beobachten ist: Die Stimmung ist deutlich aggressiver geworden und auf einen kurzen Schlagabtausch – oft nur mit Reizwörtern – erfolgt schnell einmal der rigorose «Kontaktabbruch». Diese Brüche zwischen Menschen, die sich bis anhin gut verstanden und in vielen anderen Punkten durchaus übereinstimmen, beschäftigt mich mindestens so sehr wie das Virus selbst. Die zunehmende Unversöhnlichkeit und Diskursverweigerung machen mich betroffen. Wohin wird das noch führen?
Warum fühlen wir uns von entgegengesetzten Ansichten essenziell angegriffen? Wie lässt sich mit diesen Spannungen umgehen? Denn spätestens, wenn sie im eigenen Umfeld angekommen sind, lassen sie sich eben nicht mehr so einfach beiseite schieben wie eine Zeitung, die man niemals lesen würde. So stellten sich auch mir in diesem Jahr ganz neue Fragen: Soll ich mich an meinem Geburtstag wirklich mit der Freundin aus Kindertagen treffen, obwohl wir auf einmal «zwei verschiedenen Lagern» angehören? Werden wir das Thema, das uns seit Monaten auf so vielen Ebenen beschäftigt, einfach ausklammern oder stellen wir uns trotz Geburtstag den Diskussionen?
Mag ich mit der Bekannten aus dem Quartier weiterhin Spaziergänge unternehmen, wenn sie mir zwischendurch von abstrusen Theorien erzählt?
Hat eine noch recht neue Freundschaft überhaupt eine Chance, wenn wir bei diesem Thema jetzt schon aneinandergeraten?
Die Möglichkeiten, sich zu informieren, haben seit der Erfindung des Internets unendlich zugenommen. Das macht es – gerade auch in diesem schwierigen Jahr – nicht einfacher. Wir Laien wurden geradezu überhäuft mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, und was an einem Tag noch richtig war, galt schon am nächsten wieder als falsch. Das versteht, wer weiss, dass wissenschaftliche Ergebnisse immer vorläufig sind. Dennoch kann es ermüdend und irritierend sein – besonders in unsicheren Zeiten. Meinem Wissensdrang hat dies zum Glück nicht geschadet und das Aushalten dieser (scheinbaren) Widersprüche hat im besten Fall meine Ambiguitätstoleranz erhöht.
Ich habe übrigens beschlossen, mich den Diskussionen im Freundeskreis zu stellen. Das ist oft unbequem und anstrengend. Doch es bringt auch Vorteile: Ich habe gelernt, mir eine andere Sichtweise anzuhören, ohne sie teilen zu müssen. Und ich habe festgestellt, dass man kann sich noch verstehen kann, auch wenn man in diesen Fragen sehr weit auseinanderliegt.
2020 hat mir gezeigt, dass nichts sicher ist. Sicher ist hingegen: Es hat meine Resilienz gestärkt und meine Ambiguitätstoleranz erhöht. Das nehme ich gerne mit ins nächste Jahr, ich werde es brauchen können!

Interviews mit aussergewöhnlichen Menschen

Teil 1: Rosa

Wenn du nur mit dem Finger schnipsen müsstest, um deinen Traum zu leben, wer und wo wärst du jetzt?

Ich würde noch immer hier bei einem Kaffee sitzen, aber ohne Druck. Mein Hintergrund wäre ein anderer. Ich müsste, um meine Existenz zu sichern, keiner Lohnarbeit nachgehen, die mir gar nicht entspricht.

Ich werde dieses Interview auf meinem Twitteraccount verlinken, wodurch es theoretisch ziemlich viele Menschen lesen können. Möchtest du den Lesern etwas Bestimmtes mitteilen?

(lacht) Sie sollen mir ein Café kaufen.

Weshalb ein Café?

Weil ich gerne eines hätte. Ich hatte schon einmal ein kleines Café – eines mit
13 Stühlen.

Warum genau 13 Stühle?

Die Stühle stammten aus einer Erbschaft. Meine Grossmutter war Lettin. Mein Vater stiess in jener Zeit beim Lesen auf eine Stelle, in der es um ein Café mit 13 Stühlen ging. So entstand die Idee. Mein Freund und ich führten dann 13 Veranstaltungen durch, und als wir damit genug Geld verdient hatten, brachten wir die 13 Stühle nach Riga zurück. Mit einem alten Bus wurden sie übers Land kutschiert. Mitten auf dem Domplatz stellten wir sie ab. Die Aktion war ziemlich spektakulär!

Eine schöne Geschichte! Und wie soll das neue Café aussehen?

Es soll wieder 13 Stühle haben, es soll Lesungen geben, guten Wein und Rigabalsam, und zwar kistenweise. Das ist ein Likör aus 24 Zutaten, die angeblich gegen jede Krankheit hilfreich sind.

Du möchtest Lesungen veranstalten. Liest du gerne?

Sehr gerne lese ich die »Zeit«. Ich freue mich jede Woche auf den Donnerstag. Dann setze ich mich aufs Sofa, breite die riesigen Seiten darauf aus und verteile sie auch über den ganzen Teppich. Nur die »Chancen« lege ich immer gleich beiseite. Ich betrachte mich zwar nicht als chancenlos, aber das sind nicht meine Chancen.
Daneben lese ich gerne Bücher.

Was liest du gerade?

Ich lese Houellebecq. Ich halte ihn für einen der gescheitesten Menschen der Welt. Er muss unvorstellbar viel Wissen in seinem Kopf haben. Ich blättere beim Lesen ständig zurück, es tut mir um jeden Satz leid. Wenn ich jemanden unbedingt kennenlernen möchte, dann ihn. 

Schreibst du auch selbst?

Ich würde eigentlich gerne schreiben, ich liebe Geschichten. Schon zweimal ist es mir passiert, dass ich einem Mann eine E-Mail schrieb und er mir daraufhin antwortete, es sei die beste E-Mail gewesen, die ihm je jemand geschrieben habe. Nach dem zweiten Mal schrieb ich nie mehr etwas. Ich weiss nicht, warum.

Bist du auf andere Weise kreativ? Machst du Musik?
Leider spiele ich kein Musikinstrument. Mein Vater war Lehrer für klassische Gitarre. Ich sollte sie als Kind ebenfalls lernen. Noch immer sehe ich die Rillen von den Saiten an meinen kleinen Fingern vor mir. Viel lieber hätte ich Klavier gelernt, aber das durfte ich nicht. Danach habe ich nie mehr ein Instrument gespielt.
Aber ich mag Farben und Pinsel und male ab und zu ein Bild. Meine Vorfahren waren über Generationen Maler, Dekorationsmaler.
Was ist dir besonders wertvoll?

Die Zeit ist für mich sehr kostbar. Schon als Kind hatte ich ein starkes Bewusstsein für die Zeit und eine Art Schlüsselerlebnis: Ich ging mit meiner Schulfreundin durch den Wald und blieb auf einmal stehen. Mir wurde in diesem Augenblick bewusst, dass dieser Schritt, den ich soeben gemacht hatte, sich nie mehr wiederholen würde. »Nie mehr«, rief ich meiner Freundin zu, »verstehst du?«  Sie lachte nur und meinte: »Ach, du spinnst doch wieder rum!«

Vielen Dank, Rosa!

 

 

 

 

 

A la recherche du bonheur

Alain ist schon glücklich, wenn er nicht unglücklich ist. Bernadette glaubt, das wahre Glück sei erst im Jenseits zu finden. Charles betont, Glück sei aufzuwachen, zu atmen, zu leben. Deborah macht es glücklich, wenn ihr ein Bild glückt. Emanuel findet Glück in der Musse. Für Fabienne bedeutet Glück, bei einem Glas Wein ein tiefes Gespräch mit einer Freundin zu führen. Giulio erfährt kein Glück und nimmt Drogen. Hannah traut dem Glück nicht, das fortfliegt, kaum ist es da. Ismael stimmt es glücklich, andere glücklich zu machen. Jeanne sucht ihr Glück in der Liebe. Immer wieder. Kilian sucht es in der grenzenlosen Freiheit und Lea nur noch in sich selbst. Maurice kann es glücklich machen, einen Vogel singen zu hören. Nathalie traf das Glück in Gestalt eines Hundes. Orlando hat erfahren, dass das Glück zu ihm kommt, wenn er es am wenigsten erwartet. Paulas Glück sind die weissen Rosen in ihrem Garten. Quentin sagt, er wäre glücklich, wenn er sich vor nichts mehr fürchtete. Rosanna tanzt rundherum in ihrem Glück. Samuel möchte jeden Glücksmoment mit der Kamera festhalten. Tatjana begegnet dem Glück in den intimsten Augenblicken. Umberto ist äusserst zielstrebig, Glück hin oder her. Valerie glaubt nicht an das Glück. Wladimir sagt sich, jeder ist seines Glückes Schmied. Xenia hat Angst vor zu viel Glück. Yves spürt das Glück auch in der Melancholie auf, und Zoe mag das Wort Glück schon nicht mehr hören.